Jede und jeder kennt Menschen - oder ist selbst einer davon - die auf Alternativmedizin schwören. Lieber wird ein homöopathisches Mittel genommen als Chemie, die womöglich schlimme Nebenwirkungen hat. Oftmals suchen auch Patienten, bei denen die konventionelle, wissenschaftliche Medizin keine Heilerfolge verzeichnen konnte, Alternativen, da sie sich mit ihrem Leiden nicht abfinden wollen oder können. Gut gibt es also alternative Heilmethoden, deren Erfolge zum Teil enorm sein sollen. In Lourdes werden angeblich Blinde zu Sehenden, Akkupunktur und Ähnliches scheint durchschlagende Erfolge bei chronischen Leiden zu haben. Da die meisten alternativen Heilmethoden behaupten, keine schädlichen Nebenwirkungen zu haben, scheint es sich auf jeden Fall zu lohnen, es mal auszuprobieren, selbst wenn die Wissenschaft deren Wirksamkeit in Frage stellt. Denn offensichtlich gibt es Menschen, bei denen Alternativmedizin wirkt - doch lässt sich auch erklären, warum?

In der Folge sollen einige Erklärungsansätze für Heilungserfolge der Alternativmedizin dargestellt werden. Wesentlich ist dabei, dass sämtliche Punkte für die meisten alternativen Heilerfahren anwendbar sind, unabhängig von der spezifischen Therapieform. Dies bedeutet, dass es nicht darauf ankommt, ob man Homöopathie verwendet oder jemanden zur Ader lässt, da die Wirkweise in der Regel wenig bis nichts mit dem angeblichen Wirkstoff zu tun hat.

Die Zeit heilt viele Wunden

Nimmt jemand ein klassisches oder alternativmedizinisches Mittel gegen Grippe ein und die Grippe ist am nächsten Tag verschwunden, lässt sich das oftmals damit erklären, dass die Grippe so oder so am nächsten Tag verschwunden wäre. Bei weniger schlimmen Erkrankungen wartet man gerne etwas zu, bis man ein Medikament nimmt, bis dahin kann sich die Krankheit aber schon von selbst abgeschwächt haben. Verstärkt wird dieser Effekt durch die Angabe vieler alternativmedizinischer Praktiken, dass sich die Wirkung nach Einnahme des Medikaments zuerst verschlimmern könne, bevor eine Verbesserung zu spüren sei. Bei vielen leichten Krankheiten ist das aber der normale Verlauf, dass sich die Symptome verschlechtern und erst dann eine Besserung eintritt. Das alternative Medikament kann so fast in jedem Fall die Heilwirkung für sich beanspruchen, auch wenn dem nicht so ist.

Die Zeit kann auch bei chronischen Leiden eine Rolle spielen. Hat jemand über Jahre oder Jahrzehnte Schmerzen, wird er oder sie verschiedene Therapieformen versuchen. Dabei wird es bei der einen Therapieform eher zu einer Besserung kommen, weshalb sie favorisiert wird, bei einer anderen vielleicht zu einer Verschlechterung. Dies muss aber nichts mit der Therapieform zu tun haben, sondern kann einfach dem normalen Verlauf einer chronischen Krankheit entsprechen. Oftmals wird auch eine Therapie begeistert aufgenommen, da sie anfangs zu wirken scheint, bis sich dann die Enttäuschung herausstellt (vgl. Der Placeboeffekt).

Da sich über lange Zeit die Lebensumstände verändern, kann auch dies zu einer Heilung führen. Allergien können sich abschwächen, eine Nahrungs- oder Klimaveränderung kann heilend wirken, ein neues Umfeld, eine neue Beziehung, eine neue Arbeit zu Entspannung führen. Der Erfolg wird dann aber gern der Heilform zugeschrieben, die im Moment der Besserung angewandt wurde.

Der Zeitfaktor kann aber bei weitem nicht alle Erfolge erklären. Insbesondere die wiederholte Wirkung eines Verfahrens bleibt ungeklärt. Nimmt jemand beispielsweise ein Mittel gegen die Wintergrippe, im Sommer etwas gegen eine Allergie, im Herbst gegen Kopfschmerzen und verzeichnet immer eine Besserung, muss es dafür andere Erklärungen geben.

Placebo

Von besonderer Bedeutung ist der Placeboeffekt, der deshalb separat behandelt wird. »Placeboeffekt

selektive Wahrnehmung

Nicht zu unterschätzen ist die Wirkung selektiver Wahrnehmung. Von der klasischen Medizin wird eine Wirkung erwartet. Es wird als selbstverständlich hingenommen, dass das Aspirin die Kopschmerzen lindert. Ist die klassische Medizin aber in einem anderen Bereich weniger erfolgreich, wird besonders auf diese Schwäche hingewiesen und (oftmals zu Recht) festgehalten, dass die klassische Medizin ja auch sehr vieles nicht heilen könne. Fokussiert wird also auf die Misserfolge.

Alternativmedizinischen Verfahren traut man a priori weniger. Wie soll denn ein Verfahren wirken, das keinen Wirkstoff enthält? Fernheilung via Telefon? Umso erstaunter ist man, wenn ein Erfolg erzielt wird (auch wenn der womöglich andere Gründe hat) und fokussiert deshalb auf diese Erfolge. Noch stärker ist dieser Effekt bei "Wunderheilungen". Wird für hundert Personen gebetet und eine davon steht aus dem Totenbett auf, scheint dies ein eindeutiges Zeichen für die Wirksamkeit von Gebeten zu sein. Solche Erlebnisse sind oftmals ergreifend und überzeugend und werden wieder und wieder als Beleg weiterverbreitet, dass 99 gestorben sind, wird nicht als "Gegenbeleg" gewertet, da es ja zu erwarten war, dass sie sterben und Gebete eben nur sehr spezifisch wirken etc. (»Anekdotensammlung)

Sollte sich ein alternativmedizinisches Verfahren wiederholt als (zumindest scheinbar) erfolgreich erweisen, wird diese Fokussierung auf den Erfolg noch verstärkt. Misserfolge werden dabei gerne ausgeblendet oder damit begründet, dass es bis zum Erfolg einfach nicht das richtige Verfahren / der richtige Arzt / das richtige Heilmittel war. Zudem kommt es auch zu einer Verfälschung, da der Patient sich einen Erfolg wünscht und vor dem Alternativmediziner nicht schlecht dastehen möchte. Auch kleinste Veränderungen werden deshalb oftmals als "Erfolg" verbucht oder überbetont, Misserfolge eher verschwiegen, was die Wahrnehmung des Alternativmediziners verfälschen kann. Auch hier ist der Effekt bei der klassischen Medizin oftmals ein anderer, da ein Erfolg zwingend erwartet wird und deshalb auf den Misserfolg fokussiert wird: "schon wieder hat ein Medikament nicht gewirkt, da kann ich ja gleich zum Alternativmediziner gehen..."

Der klassischen Medizin kann also gerade ihr Erfolg zum Verhängnis werden. Dies gilt allgemein für naturwissenschaftliche Erfolge. Handies funktionieren beispielsweise derart gut, dass die Handystrahlung "wirksam" sein muss, einen Effekt auf den Menschen haben muss. Besonders "feinfühlige" Menschen spüren deshalb angeblich die Handystrahlung, die von einer Handyantenne ausgeht, da da ja etwas sein muss. Schliesslich spüren sie auch die Wirkung einer alternativen Medizin, die ja viel schwächer sein soll. Funktioniert ein klassisches Medikament besonders gut, ist deshalb womöglich auch die Angst vor unerwünschten Nebenwirkungen besonders gross, dass es sehr schädlich sein könnte, weshalb nach Alternativen Ausschau gehalten wird.

Wirkt ein "klassisches" Grippemittel nicht nach kurzer Zeit, scheint es beispielsweise dem homöopathischen Mittel nicht überlegen zu sein, weshalb lieber zur Homöopathie gegriffen wird. Schliesslich ist dort der Zettel mit den möglichen Nebenwirkungen deutlich kürzer und die Gefahr "kleiner"... Bei einem bakteriellen Infekt oder gefährlicheren Krankheiten wenden sich aber die meisten Leute doch der konventionellen Medizin zu, was dieser Argumentationsweise gemäss durchaus rational ist. Denn hier hat die konventionelle Medizin eindeutig die grösseren Erfolge, ist es das Risiko wert, auch Nebewnirkungen auf sich zu nehmen.

Die selektive Wahrnehmung hat noch einen weiteren Effekt. Oft geschieht Unerwartetes häufiger als man sich das vorstellen kann. Sind ein paar tausend Leute beispielsweise in Lourdes versammelt und versammeln sich regelmässig Tausende von Leuten, wäre es eher unwahrscheinlich, wenn nicht ab und zu ein "Wunder" geschehen würde, insbesondere, wenn man den Massstab dafür, was ein Wunder ist, nicht allzu hoch ansetzt. Spontanheilungen kommen auch ohne Wunderheiler vor, bloss werden sie gerne damit in Zusammenhang gebracht, was kurz vor der "Wunderheilung" geschehen ist. Ob es dazwischen aber einen kausalen Zusammenhang gibt kann meist nur angenommen und nicht nachgewiesen werden.

Sogenannte Wunderheilungen kommen auch in der konventionellen Medizin vor. Man hört aber selten bis nie, dass damit geworben wird, da es sich dabei scheinbar um nichts aussergewöhnliches handelt. Dass die evidenzbasierte, konventionelle Medizin in vielen Fällen Krebs besiegen, HIV stabilisieren, Choleraepidemien unterdrücken kann erachten wir als selbstverständlich. "Wunder" im Sinne von etwas Überraschendem und Unerklärlichem kann es deshalb kaum geben oder wird nicht derart wahrgenommen.

Der Einfluss des "Übernatürlichen"

Während also der Erfolg der Naturwissenschaft vielen Menschen Angst macht, dass sich vieles nicht kontrollieren lässt und auch negative Auswirkungen haben muss, ist die fehlende Erfolgserwartung bei der Alternativmedizin ein Grund für den Glauben in diese. Dieses paradoxe Verhalten lässt sich damit erklären, dass scheinbare Heilerfolge der Alternativmedizin oftmals fast als Wunder wahrgenommen werden. Es scheint ein Zeichen zu sein, dass es Gott besonders gut mit einem meint, dass man besonders feinfühlig ist, da nicht alle Menschen auf die "sanfte" Alternativmedizin ansprechen etc. Das wiederum kann den Placeboeffekt verstärken und damit bei der nächsten Behandlung zu einer weiteren überdurchschnittlichen Wirksamkeit führen und sich so verstärken.