"Die Philosophie muss komparativ vorgehen. Das Beste, was wir tun können, ist, auf jedem wichtigen Gebiet so vollständig und sorgfältig wie möglich konkurrierende alternative Konzeptionen zu entwickeln, die sich nach unseren jeweiligen Sympathien richten, und zu prüfen, wie sie gegeneinander abschneiden. Das ist eine glaubwürdigere Form des Fortschritts als der entscheidende Beweis oder die Widerlegung."

Mit diesen Worten beginnt das Schlusskapitel von Thomas Nagels Buch und es beschreibt ziemlich genau, worum es Nagel im Prinzip geht: nicht darum, Beweise oder Widerlegungen zu finden, sondern verschiedene Konzeptionen gegeneinander abzuwägen, wobei schnell deutlich wird, dass er Sympathie Argumenten vorzieht. So strotzt das Buch vor Formulierungen wie "ich glaube", "ich denke", "ich gehe davon aus", "ich bin zu der Überzeugung gelangt", aber auch „vermutlich“ oder „so gut wie sicher“  -  wobei er leider kaum Begründungen für seine Thesen liefert, geschweige denn eine empirische Fundierung. Stattdessen wiederholt er sich ständig ("Wie ich bereits an anderer Stelle sagte", "ich werde später noch mehr dazu sagen"), was der Struktur des Buches nicht förderlich ist. Der Klarheit abträglich ist auch die Tatsache, dass Nagel viele Begriffe unreflektiert verwendet und allgemein stark an der Oberfläche kleben bleibt. Zusätzlich verwirrt, dass erst auf den zweiten Blick klar wird, was vermutlich Nagels wahres Motiv war, um dieses Buch zu schreiben: die Verteidigung des „moralischen Realismus“ und nicht die Widerlegung des „materialistischen Neodarwinismus“.

moralischer Realismus

So schreibt Nagel, dass ein evolutionistisches Selbstverständnis uns so gut wie sicher abverlangen würde, "den moralischen Realismus aufzugeben - die natürliche Überzeugung, wonach unsere moralischen Urteile unabhängig von unseren Überzeugungen richtig oder falsch sind." (S. 47) Auf Seite 158 gibt er dafür ein Beispiel: Er schreibt, dass er der festen Überzeugung sei, "dass Schmerz wirklich schlecht ist und nicht bloß etwas, was wir hassen, und dass Lust wirklich gut ist und nicht bloß etwas, was wir mögen. So erscheinen sie mir nun einmal, wie sehr ich mich auch bemühe, mir das Gegenteil vorzustellen, und ich vermute, dasselbe gilt für die meisten Menschen." Gerade die hier verwendeten Beispiele sind allerdings äusserst schlecht gewählt, da Schmerz auch als positiv und Lust als negativ verstanden werden kann: Schmerz bringt uns dazu, den betreffenden Körperteil zu schützen und damit den Heilprozess zu verkürzen oder überhaupt erst zu ermöglichen, Lust kann dazu führen, dass jemand vergewaltigt oder tötet. Solche Beispiele scheinen Nagel aber beim besten Willen nicht einzufallen - und bessere Beispiele, um seine These des moralischen Realismus zu stützen, erwähnt er leider nicht.

Vielmehr gesteht er sogar ein, dass eine darwinistische Darstellung von der zeitgenössischen Wissenschaft stark gestützt werde, was impliziere, dass der moralische Realismus falsch sei. Er folge allerdings "derselben Schlussfolgerung in die gegenteilige Richtung: Da der moralische Realismus richtig ist, muss eine darwinistische Darstellung der Motive, die unserer moralischen Urteilskraft zugrunde liegen, trotz des dafür sprechenden wissenschaftlichen Konsenses falsch sein." (S. 152) Und weiter: "Die Argumentation von Street [einer Wissenschaftlerin, die gegen den moralischen Realismus argumentiert] stützt sich auf einen empirisch wissenschaftlichen Anspruch, um eine philosophische Position in der Metaethik zu widerlegen. Ich stütze mich, was noch merkwürdiger ist, auf einen philosophischen Anspruch, um eine wissenschaftliche Theorie zu widerlegen, die durch empirische Belege gestützt wird." (S. 153)

Solche Sätze machen sprachlos. Meint er das wirklich ernst, was er hier schreibt? Doch es wird noch schlimmer. Nagel gesteht sogar ein, dass ein moralischer Subjektivismus (das Gegenteil vom moralischen Realismus) kohärent und verständlich sei. Bloss sei es ihm unmöglich, diese Position zu übernehmen (S. 179f.). Das bedeutet offensichtlich, dass weil es ihm, „König“ Nagel, unmöglich ist, diese Position zu übernehmen, sich die Wissenschaft irren muss. Egal, ob empirische und logische Argumente gegen seine Position sprechen - er hat trotzdem recht. Die Erde ist flach, die Sonne dreht sich um die Erde, die Welt wurde vor 6000 Jahren von Gott geschaffen. Alles ist möglich, wenn man Nagels Argumentationsweise folgt. Hauptsache - es entspricht der Position Nagels.

Antimaterialismus

Um seine dogmatische Position, den moralischen Realismus, zu „verteidigen“, muss Nagel nun zeigen, dass "die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist", wie es im Untertitel des Buches heisst. Dies tut er allerdings wiederum weniger mit starken Argumenten, als mit dem simplen Urteil, dass die Vorstellung, dass alles, was existiert evolutionär entstanden ist und sich mittels physikalischer Gesetze beschreiben lässt „unplausibel“ sei. Die Wahrscheinlichkeit spreche gegen eine rein evolutionäre Entstehung von Leben, Bewusstsein, Vernunft und Werten. Gewisse Dinge seien so bemerkenswert, dass sie nicht zufällig erklärt werden könnten, es sei zudem so gut wie unmöglich, dass diese Tatsachen (z.B. Bewusstsein) von nichts anderem als den Gesetzen der Physik abhingen (S. 45). Begründungen für seine Position fehlen allerdings grösstenteils oder sind keineswegs zwingend.

Sein Hauptargument scheint darin zu bestehen, dass er, Thomas Nagel, es sich nicht vorstellen kann, dass Leben und Bewusstsein rein evolutionär entstanden sind. Sich argumentativ auf sein Vorstellungsvermögen zu verlassen, ist allerdings keine besonders gute Strategie, denn dieses spielt uns immer wieder Streiche. So kann ich mir beispielsweise beim besten Willen nicht vorstellen, wie es David Copperfield geschafft hat, ein Flugzeug oder die Freiheitsstatue vor Publikum zum Verschwinden zu bringen. Ich ziehe daraus allerdings nicht den Schluss, dass dies unmöglich war, dass Copperfield die Naturgesetze ausser Kraft gesetzt oder die Wissenschaft sich deshalb geirrt hätte. Analog dazu ist es in der Tat schwierig, sich vorzustellen wie Leben oder Bewusstsein rein evolutionär entstanden sein sollen, was allerdings nicht bedeuten muss, dass dies nicht doch so geschehen sein könnte.

Dies umso mehr, als der „materialistische Neodarwinismus“ äusserst gut belegt ist und die evolutionäre Entstehung von Leben und Bewusstsein zwar für Nagel „unplausibel“, nicht aber empirisch oder logisch ausgeschlossen ist. Bevor aber eine gut bewährte wissenschaftliche Theorie ohne Notwendigkeit verworfen wird, muss eine Alternative dazu bestehen. Eine solche Alternative muss allerdings nicht nur offene Probleme der Evolutionstheorie wie die Entstehung von Leben und Bewusstsein besser lösen können als diese, sondern auch entweder mit der Evolutionstheorie kompatibel sein oder diese als Ganzes ersetzen. Gelingt dies nicht, besteht das wissenschaftliche Vorgehen darin, die beste, wenn auch womöglich nicht richtige Theorie zu favorisieren, bis man über eine bessere verfügt. Thomas Nagel geht in seinem Buch durchaus auf alternative Theorien ein, doch mögen diese diesen Vorgaben auch nicht annäherungsweise gerecht zu werden, wie er auf Seite 25 selbst eingesteht.

Nagels Alternativen

Als erste Alternative erwähnt Nagel den Theismus, also die Überzeugung, dass die absoluten moralischen Werte des moralischen Realismus wie auch Leben und Bewusstsein durch Gott geschaffen wurden (S. 24). Als bekennender Atheist ("einmal abgesehen von der Schwierigkeit, an Gott zu glauben..." S. 44) lehnt er den Theismus allerdings auch gleich ab: "Ich halte den Theismus als eine umfassende Weltanschauung allerdings für kein bisschen glaubwürdiger als den Materialismus" (S. 39). Dass der Theismus unglaubwürdig ist und definitiv keine Alternative für die materialistisch verstandene Evolutionstheorie, lässt sich aus wissenschaftlicher Perspektive kaum ernsthaft bestreiten. Es fällt allerdings auf, dass Nagel auch hier auf Begründungen und Argumente verzichtet.

Auch die zweite von Nagel vorgeschlagene Alternative mag nicht zu überzeugen. Nagel spricht sich für einen „neutralen Monismus“ aus, eine panpsychische Konzeption, in der der Geist „nicht bloß ein nachträglicher Einfall oder ein Zufall oder eine Zusatzausstattung ist, sondern ein grundlegender Aspekt der Natur." (S. 30) Alles, sei es lebendig oder nicht, bestehe aus Elementen "mit einer Beschaffenheit, die sowohl physisch als auch nichtphysisch ist […] Alle Elemente der physischen Welt sind zugleich mental." (S. 87) Er ist der Überzeugung, dass diese Ansicht „genug Potenzial“ habe, „um Berücksichtigung zu verdienen“, ja sie erscheine „trotz des ernsten Problems mit dem mentalen Verhältnis zwischen Teil und Ganzem [als] relativ glaubwürdig.“ (S. 127) Nagel scheint sich offenbar nicht bewusst zu sein, dass diese Vorstellung einen offenen Widerspruch enthält (zugleich „sowohl physisch als auch nichtphysisch“) und damit bereits logisch widerlegt ist. Abgesehen von weiteren gravierenden Problemen, die sich aus dieser Vorstellung ergeben, hat sie deshalb aus wissenschaftlicher Perspektive definitiv nicht das Potenzial, um Berücksichtigung zu verdienen - selbst wenn Nagel nicht dieser Ansicht ist.

Auch die Teleologie, die Nagel als weitere Alternative erwähnt, mag nicht wirklich zu überzeugen. "Die teleologische Hypothese lautet, dass diese Dinge [Werte, Leben, Bewusstsein etc.] vielleicht nicht allein von wertfreier Chemie und Physik festgelegt werden, sondern außerdem noch von etwas anderem, nämlich einer kosmischen Prädisposition für die Schaffung von Leben, Bewusstsein und Wert, der von ihnen nicht ablösbar ist." (S. 176) Eine solche "kosmische Prädisposition" dürfte für den Atheisten Nagel allerdings nicht Gott sein, was man sich alternativ darunter vorzustellen hätte, erklärt er leider nicht. Vielmehr gesteht er offen ein: "Diese teleologischen Spekulationen werden lediglich als Möglichkeiten dargeboten, ohne feste Überzeugung." (S. 178) Weitere Alternativen bietet er leider nicht, weshalb aus wissenschaftlicher Perspektive Nagels Argumentation als gescheitert betrachtet werden muss.

Fazit

Thomas Nagel ging es in diesem Buch offensichtlich nicht darum, „so vollständig und sorgfältig wie möglich konkurrierende alternative Konzeptionen zu entwickeln, […] und zu prüfen, wie sie gegeneinander abschneiden“ (S. 181), sondern vielmehr darum, zu zeigen, dass der moralische Realismus wahr und damit der materialistische Neodarwinismus „so gut wie sicher“ falsch ist. Dies ist ihm allerdings bei unvoreingenommener Betrachtungsweise nicht gelungen, da er nicht ergebnisoffen, sondern dogmatisch vorgegangen ist. Dies gesteht er auch ziemlich direkt ein: „Ich habe geduldig gegen die herrschende Form des Naturalismus argumentiert, gegen einen reduktiven Materialismus, der vorgibt, Leben und Geist durch seine neodarwinistische Ausweitung zu erfassen. Aber um noch einmal auf meine einleitenden Bemerkungen zurückzukommen, ich finde diese Auffassung von vornherein unglaubhaft - ein heroischer Triumph ideologischer Theorie über den gesunden Menschenverstand. Die empirische Beweislage kann so interpretiert werden, dass sie verschiedenen umfassenden Theorien entgegenkommt, aber in diesem Fall ist der Preis in Form konzeptueller und probabilistischer Verdrehungen untragbar. ... Des Menschen Wille, zu glauben, ist unerschöpflich." (S. 182f.)

Wer eine Auffassung "von vornherein unglaubhaft" findet, wer eine Theorie deshalb ablehnt, weil sie gegen den gesunden Menschenverstand verstösst, wer die empirische Beweislage einfach negiert, weil der Preis zu hoch sei und eigene unhaltbare Überzeugungen wie der moralische Realismus aufgegeben werden müssten (S. 160), der argumentiert weder wissenschaftlich, noch philosophisch, noch geduldig. Wenn das Resultat „von vornherein“ feststeht, eingestanden wird, dass die empirische Beweislage zwar gegen die eigenen Ansichten spreche, die eigene Position aber trotzdem stimme (S. 152f.), wer Sympathien über Beweis oder Widerlegung stellt (S. 181), der sollte besser keine Bücher mit philosophischem Anspruch schreiben.

Dass es sich bei diesem Autoren um den bekannten Philosophen Thomas Nagel handelt, ist allerdings tragisch. Denn von einem Mann mit dessen Reputation hätte man definitiv mehr erwartet. Tragisch ist aber vor allem, dass sich dieses Buch gut verkauft und die argumentativen Schwächen von vielen übersehen werden. Und tragisch ist, dass viele Menschen Nagels Thesen glauben werden. Erklären lässt sich dies allerdings leicht mit dem letzten Satz von Nagels Buch: Des Menschen Wille, zu glauben, ist unerschöpflich.