Religion ist ein schillernder Begriff mit sehr vielen unterschiedlichen Bedeutungen. Religion ist deshalb kaum eindeutig definierbar, es lassen sich aber Bedingungen erfassen, welche für die meisten Religionsbegriffe notwendig sind, wenn auch viele Ausnahmen bestehen mögen. Religion gibt in der Regel (scheinbar) letztgültige Antworten auf Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach einem möglichen "Leben" nach dem Tod, nach Entstehung, Funktionsweise und Ende der Welt. Religion gibt vielen Menschen Halt, indem sie eine (imaginäre) Bezugsperson zur Verfügung stellt, absolute Werte vermittelt und Anleitungen dafür gibt, wie ein "richtiges" Leben auszusehen hat. Religion umfasst verschiedene Aspekte, die direkt das Gefühl ansprechen: spirituelle, mystische Erlebnisse; Gotteserfahrungen; gefühlte Verbindungen mit dem Jenseitigen, Transzendenten oder Absoluten; Gebet, Meditiation oder andere Formen kontemplativer Techniken; Rituale; Gruppenveranstaltungen etc. Die meisten Religionen nehmen zudem die Existenz von Geistern, Göttern, "Prinzipien" oder auch einem einzelnen Gott an, welche über aussergewöhnliche, meist übernatürliche Kräfte verfügen und die dem Menschen je nachdem in Notsituationen beistehen können oder gegenüber denen der Mensch Verantwortung trägt: diejenigen, die sich an die Normen der jeweiligen Religion halten werden dafür nach dem Tod belohnt, die anderen dafür bestraft.

Unvereinbarkeit verschiedener Religionen

Auffallend an dieser (längst nicht vollständigen) Zusammenstellung ist die Tatsache, dass sich die verschiedenen Religionen oft diametral widersprechen, selbst wenn sie angeblich den identischen Gott anbeten wie Judentum, Christentum und Islam. Die angeblich absoluten Werte variieren von Religion zu Religion und haben oftmals nur einen eingeschränkten Geltungsbereich, da sich beispielsweise sogar die Götter nicht daran halten: sie führen miteinander Krieg, erlassen völlig unverhältnismässige Strafen, sind oftmals eher Abschreckung als Vorbild. Die Antwort nach dem Sinn des Lebens wird je unterschiedlich beantwortet, bei den einen Religionen kommt es zur irdischen Wiedergeburt, andere sehen die Weiterexistenz in einem Jenseits vor. Nur schon aus diesem Grund muss der Versuch scheitern, einen wahren Kern von Religionen herauszuarbeiten: man kann nicht zugleich irdisch wiedergeboren werden und in den jenseitigen Himmel kommen, es kann nicht zugleich nur einen Gott und mehrere Götter geben. Es können nicht alle Religionen zugleich, aber auch nicht alle Religionen gleich wahr sein. Da es aber derart viele verschiedene Religionen gibt, liegt der Schluss nahe, dass keine der "ganzen" Wahrheit entspricht. 

Dieser Befund wird auch dadurch gestützt, dass Religionen meist nicht aktiv ausgewählt werden, sondern dass man in eine Religion "hineingeboren" wird. Der Glaube lässt sich zwar auch wechseln, doch sehen manche Religionen den Abfall vom Glauben der Eltern als Todsünde, andere Religionen lehnen es ab, Gläubige überhaupt aufzunehmen. Welcher Religion man anhängt hat also viel mit Zufall zu tun. Gleichwohl ist für viele Menschen die eigene Religion einer der stärksten Identifikationsfaktoren und sind viele Menschen von der absoluten Wahrheit des eigenen Glaubens komplett überzeugt. Wären sie allerdings woanders geboren worden, würden sie ein alternatives System mit ähnlicher Vehemenz verteidigen.

"Wahrheit" und "Falschheit" von Glaubenssystemen, respektive Religionen hat also viel mit subjektiver Präferenz zu tun. Gibt es kein unabhängiges Kriterium, um "DEN wahren" Glauben von "weniger wahren", respektive falschen Glaubensformen abzugrenzen, scheint das wichtigste Kriterium für die angebliche Wahrheit die eigene Zugehörigkeit zum jeweiligen Glauben, zur jeweiligen Religion zu sein. Dies bedeutet allerdings kaum, dass der Christ in den Himmel kommen und der Hinduist wiedergeboren werden wird. Sondern es liegt nahe, dass keine der Vorstellungen mit der Realität nach dem Tod übereinstimmt. 

welche Religion ist die Richtige?

Religionen kommt also eine gewisse Willkür zu. Die einen Menschen übernehmen einfach die Religion ihrer Eltern oder ihrer Umgebung. Andere wählen aktiv eine Religion aus oder wechseln die Religion. Doch auch hier gibt es keine objektiven Kriterien, warum die eine Religion "wahrer" sein soll als eine andere. Die Wahl der Religion (oder auch der bewusste Verzicht auf eine Religion) basiert auf personalen, subjektiven Präferenzen oder auf Druck von aussen. Dies ist insofern erstaunlich, als Religion einen enormen Einfluss auf die Lebensgestaltung haben kann - und nach religiöser Vorstellung sogar zumeist für ein Dasein in aller Ewigkeit. Die Gefahr, der "falschen" Religion anzugehören und damit unter Umständen bis in alle Ewigkeit in der Hölle zu schmoren oder als Regenwurm wieder geboren zu werden, sollte eigentlich Ansporn genug sein, um nach möglichst objektiven Kriterien zu suchen, welche Vorstellungen mit Bestimmtheit ausgeschlossen werden können. 

Dies wird erstaunlicherweise von den wenigsten religiösen Menschen wirklich versucht. Vielmehr ist es für sie undenkbar von der eigenen Religion "abzufallen". Berühmt in diesem Zusammenhang ist die Pascalsche Wette, dass es sich auf jeden Fall lohne, Christ zu sein, respektive an Gott zu glauben: Gebe es Gott, dann würde man für den Glauben belohnt, respektive für den Nichtglauben bestraft. Gebe es Gott aber nicht, könne man auch nichts verlieren. Leider enthält dieses Argument mindestens einen Fehler. Pascal geht davon aus, dass der christliche Glaube der einzig "wahre" Glaube ist. Was geschieht aber, wenn Pascal den falschen Gott anbetet? Der falschen Religion angehört? Schliesslich soll der gleiche (!) Gott gesagt haben, dass sowohl allen Nichtjuden, wie auch allen Nichtchristen und allen Nichtmuslimen der Himmel verwehrt bleiben würde. Welche der drei Religionen hat nun aber recht? [1] Zudem ist der Glaube durchaus nicht kostenlos. Wer sein Leben in Angst vor der Hölle verbringt oder seine Existenz in einer niederen Kaste als gottgegeben einfach akzeptiert, hätte womöglich mehr davon, seinen Glauben aufzugeben. Auch die vielen Religionskriege haben unsäglich viel Leid über die Erde gebracht.

Religiöse Gewissheit

Welchem Glauben oder welcher Religion man anhängt, hat also viel mit Zufall zu tun. Dieser Zufälligkeit und fehlender objektiver Grundlegung des Glaubens steht die religiöse Gewissheit entgegen. Ob selbst ausgewählter oder von den Eltern übernommener Glaube, die eigene Religion wird mit Vehemenz verteidigt. Religiöse Überzeugungen sitzen sehr tief und sind äusserst resistent gegenüber rationalen Argumenten (Cohen: töten einfacher als Meinung ändern). Während (fast) alle Menschen früher oder später vom Glauben an den Weihnachtsmann oder den Osterhasen abfallen, können religiöse Überzeugungen noch so irrational sein - an ihnen wird kaum je gezweifelt. Der Osterhase kann zwar keine Eier verstecken, aber Jonas tagelang im Bauch eines Wals überleben. Der Weihnachtsmann kann zwar nicht mit einem von Rentieren gezogenen Schlitten Geschenke verteilen, aber sollte Shiva zu tanzen aufhören (was er natürlich nicht tut), würde die Welt untergehen. 

Solche Diskrepanzen machen es für nichtreligiöse oder nichtgläubige Menschen schwierig, Religion zu verstehen. Die religiöse Überzeugung ist äusserst resistent gegenüber Einwänden aller Art. Auch wer viele Geschichten der Bibel nur metaphorisch oder als Gleichnis verstanden haben will, kann als Christ nicht an der Jungfrauengeburt oder der Wiederauferstehung Jesu Christi zweifeln, da sonst die Grundlage des Glaubens in Frage gestellt würde. Doch auch ohne Adam und Eva und damit ohne Erbsünde ergibt das Christentum keinen wirklichen Sinn. Wobei auch die absurde Ungerechtigkeit der Erbsünde nicht reflektiert werden kann, ohne am Christentum zu zweifeln. Doch auch die Wiedergeburt als Regenwurm - oder auch in einem anderen Menschen - führt bei genauerem Nachdenken zu logischen Schwierigkeiten (»Leib-Seele Dualismus), ein Gerechtigkeitsbegriff wie ihn die meisten Religionen voraussetzen ist nicht widerspruchsfrei denkbar (»Existiert Willensfreiheit). 

Diese eigentlich faszinierende Resilienz gegenüber rationalen Argumenten lässt sich zu einem wesentlichen Masse mithilfe psychologischer Mechanismen erklären. Religion wird "gefühlt", Religion ist etwas für das "Herz". Viele Menschen spüren die Gewissheit, dass ihre Religion die Richtige ist, wie sie wissen, wenn sie verliebt oder traurig sind. Religiöse Gewissheit ist ein Gefühl und an Gefühlen lässt sich nur sehr schwer zweifeln. Dies hat auch damit zu tun, dass Religion für viele Menschen einen zentralen Lebensinhalt darstellt. Religion gibt ihnen Halt, Sinn und Struktur, Dinge, auf die sie nicht so leicht verzichten können. Zweifel am Osterhasen oder am Weihnachtsmann führen in der Regel nicht zu grösseren (wenn auch durchaus zu kleineren...) Lebenskrisen. Den Glauben an den Osterhasen aufzugeben stellt Menschen deshalb meist vor weniger Probleme als die Aufgabe des Glaubens, der Grundlage des eigenen Lebens bildet. Dazu kommt oftmals die Angst vor Bestrafung bei einem irrtümlichen Abfallen vom Glauben. Riskiert man die Hölle oder wie in manchen Formen des Islam die Todesstrafe, ist es durchaus rational, den Glauben trotz gegenteiliger rationaler Argumente beizubehalten. Oftmals genügt aber nur schon die Befürchtung, dass einem etwas Wichtiges weggenommen wird, um sich rationalen Argumenten zu verschliessen. Es darf einfach nicht sein, dass man sich geirrt hat (»Es kann nicht so sein...).

Kommt es zu einem Widerstreit zwischen Gefühl und Verstand, gewinnt meist das Gefühl. Starke rationale Argumente können deshalb sogar genau den gegenteiligen Effekt haben: wer sich in die Enge getrieben fühlt, schaltet auf stur und wird verschiedene Argumentationsstrategien bemühen, die rhetorisch erfolgreich sind, auch wenn sie nicht haltbar sind (»Argumentationsanalyse). Zusammen mit weiteren psychologischen Effekten führt dies dazu, dass auch äusserst intelligente Menschen ernsthaft daran glauben, dass beispielsweise jeweils zwei Exemplare aller "durch die Nase atmenden" Tierarten der Erde auf einem Schiff von rund 140 Meter Länge, 20 Meter Breite und 25 Meter Höhe Platz gehabt haben sollten. 

Religion ohne Institution

Immer mehr Menschen wenden sich aus solchen Gründen von institutionellen Religionen ab und wenden sich beispielsweise esoterischen oder fernöstlichen Lehren zu. Diese erscheinen vielen als eine Art Religion ohne Institution, als Lehren, in welchen man sich ausschliesslich auf die religiöse Spiritualität konzentrieren kann. Man distanziert sich von der "reichen Kirche mit ihren pädophilen Priestern", von den "patriarchalischen Strukturen", von "Adam und Eva", um sich angeblich in etwas Überlegenem wiederzufinden, wo man die Verbindung zu einem nichtpersonalen Gott direkt erfahren kann. Durch das Entfernen des Überbaus soll der "wahre Kern" freigelegt werden und der Fokus auf die persönliche Suche und das persönliche Erleben gelegt werden.  

Erstaunlich ist allerdings, dass sich viele dieser alternativen Formen von Religion gar nicht allzu stark von den herkömmlichen unterscheiden. So bildeten sich zum einen verschiedentlich schnell Sekten, deren "Führer" es sich gut gehen liessen und letztlich eigene "Kirchen" aufbauten (z.B. Osho-Baghwan). Zum anderen basieren esoterische Lehren selbst auf einem völlig absurden Fundament, was sich beispielsweise besonders gut an der Theosophie oder auch der Anthroposophie Rudolf Steiners zeigen lässt. So gehört etwa zur (esoterischen) Anthroposophie die Annahme von "Wurzelrassen" oder einer "Akasha-Chronik", einer Art "Weltgedächtnis", in dem speziell begabte Menschen angeblich auf übersinnliche Art und Weise "lesen" und "alles" über die Vergangenheit lernen können. Vielen Menschen sind diese Hintergründe aber weniger bekannt und sie lassen sich mehr durch Aussagen wie die folgende faszinieren: Rudolf Steiner (zit. in Grom 2002, S. 46): "Tatsachen kann man erfahren, aber nicht 'mit dem Verstande beweisen'. Mit dem Verstande kann man auch einen Walfisch nicht beweisen. Den muß man entweder selbst sehen oder sich von denen beschreiben lassen, die einen gesehen haben. So ist es auch mit übersinnlichen Tatsachen." (»Gibt es Übersinnliches?)

Um zu höheren "Sphären" aufzusteigen benötigt man also wiederum einen "Lehrer", der einem den Weg beschreibt. Um sein Karma zu reinigen, benötigt man Angaben, wie dies gelingen kann. Um sich mit seinem Schicksal, z.B. einer schweren Krankheit besser zurechtzufinden, sucht man Antworten, die früher die Kirche gegeben hat, an deren Stelle inzwischen aber oftmals die Esoterik oder ein fernöstlicher "Guru" getreten ist. So stark sich diese neuen Formen von Religion auch von den herkömmlichen Formen zu unterscheiden scheinen, scheint es sich dabei nur allzu oft um alten Wein in neuen Schläuchen zu handeln. Dies zeigt sich auch im Aufschwung christlicher Freikirchen, welche "cool" und unterhaltend zu sein versuchen (und es vielleicht auch sind), deren Kernlehren aber oftmals fundamentalistisch und intolerant sind. Sie versprechen ähnlich wie fernöstliche "spirituelle Lehrer" oder auf der Esoterik aufbauende Lehren neue Formen von Religiosität und Spiritualität, die sich aber letztlich nur in der Form von institutioneller Religion unterscheiden. 

Religion ohne Gott

Für viele Menschen hat aber nicht nur die institutionelle Religion an Glaubwürdigkeit verloren, sondern auch Gott. Was mit diesem Begriff bezeichnet wird ist sowieso alles andere als klar. Dass es sich bei Gott nicht um einen alten Mann mit weissem Bart handeln kann, ist vielen offensichtlich genug. Doch was sonst ist Gott? Mit diesem Begriff werden die unterschiedlichsten und oftmals nicht miteinander vereinbaren Vorstellungen verknüpft. Gott soll zugleich personal und unpersönlich sein, zugleich allgütig, allmächtig und Schöpfer der nicht nur guten Welt (Theodizee-Problem), mit Gott soll sich kommunizieren lassen, obwohl es sich dabei zugleich nur um eine "höhere Form von Energie" handeln soll. Wie aber eine "Energie" Trost spenden, die Welt erschaffen oder mit Absicht in die Welt eingreifen können soll, lässt sich wohl nur damit erklären, dass diese Energie wiederum personale Aspekte haben muss. 

Gottesvorstellungen basieren zu einem wichtigen Teil auf subjektiven Gotteserfahrungen, welche nicht objektiv fassbar sind. Erstaunlich ist an Gotteserfahrungen jedoch, dass meist der Gott erfahren wird, an den man glaubt. Hinduistische Inder haben andere Gotteserfahrungen als gläubige Christen. Dies legt nahe, dass es sich bei Gotteserfahrungen zwar um intensive Erfahrungen handelt, dass sie aber nur eine Illusion sind: Gotteserfahrungen sind in vielem vergleichbar mit Drogenerfahrungen und scheinen sich sogar mittels Gehirnmanipulationen induzieren zu lassen. 

Aus welchen Gründen auch immer scheinen Zweifel an Gott immer mehr dazu zu führen, dass Gläubige eine "Religion ohne Gott" entwickeln, wie Richard Dworkin es formuliert hat. So schreibt er auf Seite 11 seines 2014 erschienen Buches gleichen Namens: "Religion ist etwas Tieferes als Gott - das ist das Thema dieses Buches. Religion ist eine sehr grundlegende, spezifische und umfassende Weltsicht, die besagt, dass ein inhärenter, objektiver Wert alles durchdringt, dass das Universum und seine Geschöpfe Ehrfurcht gebieten, dass das menschliche Leben einen Sinn und das Universum eine Ordnung hat." Dworkin zeigt allerdings mit seiner Wortwahl, dass er nur scheinbar bereit ist auf Gott zu verzichten, spricht er doch selbst von "Geschöpfen". An anderer Stelle schreibt er von Gläubigen, welche zwar nicht an einen "personalen" Gott glaubten, dafür aber an eine "Macht" im Universum, welche "größer" sei als wir (S. 12) - und die man gemeinhin eben auch als "Gott" bezeichnet. 

Auch ist es fraglich, wie ein "inhärenter, objektiver Wert" ohne Gott entstanden sein soll. Auf dieselben Probleme stösst Thomas Nagel (»Thomas Nagel: Geist und Kosmos), der sich wie Dworkin als Atheist versteht, aber auf objektive moralische Werte nicht verzichten zu können glaubt. Nagels Alternativen zu einer evolutionären Sichtweise, welche Religion in diesem Sinne ausschliesst, führen aber schnell zu Widersprüchen (»Panpsychismus) - oder faktisch wieder zu Gott zurück (Teleologie). Dies erstaunt auch nicht, da das Universum entweder von "irgendetwas", das auch als Gott bezeichnet wird sinnvoll und mit inhärenten, objektiven Werten ausgestattet wurde - oder Sinn und Werte vom Menschen ins Universum, in die Welt hineingelegt werden. Letzteres ist direkte Konsequenz der wissenschaftlichen Evolutionstheorie, welche allerdings einen Gott ausschliesst, der in die Geschicke der Welt eingreift oder dieser Sinn und Wert verleiht - wie Thomas Nagel in seinem Buch auch zeigt. 

Religion ohne Religion

Von "religiösen Atheisten" wie Dworkin oder Nagel wird vor allem die Notwendigkeit von absoluten Werten, eines dem Leben inhärenten Sinns betont, die Religion notwendig machten, respektive gegen den wissenschaftlichen Naturalismus sprächen (Dworkin, S. 21: "Zur religiösen Einstellung gehört es, den Naturalismus abzulehnen."). Gerne wird auch argumentiert, dass eine Welt ohne Religion, eine Welt ohne absolute Werte zum Nihilismus, zu Dekadenz und moralischer Verirrung führe (z.B. von Kutschera: Konsequenzen des Materialismus). Dem steht allerdings die Beobachtung entgegen, dass in modernen, aufgeklärten Gesellschaften zwar andere moralische Werte gelten, aber keinesfalls keine Werte. Auch ohne Religion lassen sich moralische Werte begründen wie es beispielsweise in Natur- und Menschenrechten geschieht, auch in atheistischen oder areligiösen Gesellschaften können moralische Rechte vereinbart werden. Nur schon diese Möglichkeiten zeigen, dass es sich bei moralischen Werten nicht um absolute Werte handeln kann, da sie sich im Laufe der Zeit gewandelt haben. So wird im alten Testament Sklaverei noch als völlig selbstverständlich behandelt, war die moralische Regel "Aug um Aug, Zahn um Zahn" vor mehreren tausend Jahren vielleicht ein moralischer Fortschritt, heute allerdings höchstens ein Anachronismus. Auch die vielgepriesene Nächstenliebe ist weniger fortschrittlich, als sie auf den ersten Blick scheinen mag: Während die "Nächsten", also Menschen, die zur eigenen Gruppe gehören geliebt werden sollen, gilt dies nicht unbedingt für Menschen, die nicht zu den "Nächsten", nicht zur eigenen Gruppe gehören. 

Dieses Bevorzugen der eigenen Gruppe wie auch verschiedene Formen von Altruismus finden sich bereits im Tierreich und lassen sich leicht evolutionär erklären. Dazu sind weder Gott noch Religion notwendig, wie auch Michael Schmidt-Salomon in seinem Buch "Jenseits von Gut und Böse: Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind" (2009) eindrücklich zeigt. Vielmehr lassen sich Werte nur ohne Religion und ohne Gott sinnvoll begründen, da es schlicht zu viele Religionen und zu viele Götter gibt. Aus dem gleichen Grund lässt sich auch kaum ein absoluter "Sinn des Lebens" formulieren, was aber auch nicht nötig ist. Während manche Menschen das Anbeten eines Gottes oder das Erfüllen religiöser Normen als Sinn des Lebens erkennen, sehen andere ihn darin Kinder zu haben und damit Leben weiterzugeben. Wieder andere mögen ihr Leben der Politik, einem Sport, der Kunst, dem Nichtstun "widmen" und darin Sinn und Erfüllung finden. Anstatt also nach einem Sinn zu suchen oder den von einer Religion vorgegebenen Sinn blind zu übernehmen, scheint es sinnvoller zu sein, dem Leben einen eigenen Sinn zu geben. Dies ist auch in einer naturalistisch-evolutionär funktionierenden Welt möglich, wie Albert Camus in seinem Buch "Der Mythos des Sisyphos" darlegt. Auch wenn eine solche Welt sinnlos, leer und absurd erscheinen mag, ist es möglich, das eigene Leben mit Sinn zu erfüllen, sich an der Schönheit des Lebens zu erfreuen, sein Leben selbst zu gestalten. Es ist möglich in Freundschaften Halt zu finden, aber auch sich einen Gott oder einen Gottessohn vorzustellen, der einem auch dann Trost spenden kann, wenn er eigentlich nicht existiert. Es ist möglich in die Kirche zu gehen, sich an Oratorien zu erfreuen, sein Leben in den Dienst einer Religion zu stellen. Es ist aber vor allem auch möglich, die Funktionsweise der Welt auf eine Art und Weise zu erklären, die Erkenntnisfortschritt ermöglicht.

Religion ist in diesem Sinne in doppelter Hinsicht auch ohne Religion möglich: Zum einen lässt sich die Existenz der religiösen Aspekte des Lebens auch ohne Religion erklären. Es handelt sich dabei um evolutionär gewachsene Strukturen, welche im Überlebenskampf offensichtlich von Vorteil waren (vgl. dazu Junker 2010). Zum anderen existieren inzwischen zu vielen Aspekten von Religion Alternativen. Das, was früher durch die Religion erklärt wurde, kann heute zum grössten Teil auch wissenschaftlich erklärt werden. Es gibt allerdings auch einige Aspekte, welche aus wissenschaftlicher Sicht aufgegeben werden müssen - respektive wofür Alternativen gesucht werden müssten, will man auf Religion als Religion verzichten.

So kann aus wissenschaftlich-naturalistischer Perspektive ein Leben nach dem Tod wie auch die Existenz einer Seele ausgeschlossen werden (»Leib-Seele Dualismus). Wissenschaft ist damit viel stärker aufs Diesseits gerichtet als die meisten Religionen. Doch genau hier liegt auch eine der grossen Schwächen der Wissenschaft, wie Alain de Botton in seinem Buch "Religion für Atheisten: Vom Nutzen der Religion für das Leben" darlegt. Spiritualität, Gemeinsinn und Gemeinschaft sind auch in einer gottlosen und areligiösen Welt grosse Bedürfnisse. Ein auch nur imaginierter Gott gibt vielen Menschen mehr Halt als die Einsicht in die Stringtheorie. Das Abgeben von Verantwortung erleichtert vielen Menschen, die sich in schwierigen Lebensumständen befinden das Leben. Meditation und das Finden innerer Ruhe spricht gerade auch Menschen an, welchen es schwerfällt dem Stress des Lebens zu entfliehen. Eine Welt ohne Religion ist in vielerlei Hinsicht eine anstrengendere Welt, wo mehr Verantwortung übernommen werden muss, es ist eine Welt, in welcher die Bequemheit der Unmündigkeit aufgegeben werden muss, wie Immanuel Kant konstatiert (Kant 2004, S. 9). Ob eine solche Welt aber überhaupt möglich ist und insbesondere, ob es sich dabei zwingend um eine bessere Welt handeln würde, ist damit längst nicht gesagt. Vielleicht müsste in einer Welt ohne Religion - Religion erfunden werden.

Anmerkung

[1] über die Nichtjuden: Sanhedrin 110b Raschi "Die Nichtjuden werden Frevler genannt …, die Frevler kommen in die Hölle, alle die gottvergessenen Nichtjuden."
über die Nichtchristen: Markus 16,16 "Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden."
über die Nichtmuslime: Sure 3,85 "Wer eine andere Religion als den Islam sucht, von dem wird es nicht angenommen werden. Und im Jenseits gehört er zu den Verlierern."

Literatur

Beckermann, Ansgar. 2013. Glaube. De Gruyter.
Bering, Jesse. 2011. Die Erfindung Gottes: Wie die Evolution den Glauben schuf. Piper.
Binder, Alfred. 2012. Religion: Eine kurze Kritik. 1. Aufl. Alibri.
Bonner, Stefan und Anne Weiss. 2011. Heilige Scheiße: Wären wir ohne Religion wirklich besser dran? 1. Aufl. Bastei Lübbe (Bastei Verlag).
Botton, Alain de. 2013. Religion für Atheisten: Vom Nutzen der Religion für das Leben. 1. Aufl. S. FISCHER.
Camus, Albert. 2000. Der Mythos des Sisyphos. 13. Aufl. rororo.
Dworkin, Ronald. 2014. Religion ohne Gott. 1. Aufl. Suhrkamp Verlag.
Grom, Bernhard. 2002. Hoffnungsträger Esoterik? Topos Plus.
Junker, Thomas und Sabine Paul. 2010. Der Darwin-Code: Die Evolution erklärt unser Leben. 1. Aufl. Beck.
Kant, Immanuel. 2004. Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Hg. von Erhard Bahr. Philipp Reclam jun. GmbH Verlag.
Nagel, Thomas. 2013. Geist und Kosmos: Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. 1. Aufl. Suhrkamp Verlag.
Newberg, Andrew und Mark Robert Waldman. 2010. Der Fingerabdruck Gottes: Wie religiöse und spirituelle Erfahrungen unser Gehirn verändern. Kailash.
Peters, Ulrike. 2012. Esoterik als moderne Religionsform. Verlag T. Bautz GmbH.
Rorty, Richard und Gianni Vattimo. 2006. Die Zukunft der Religion. 1. Aufl. Suhrkamp Verlag.
Schmidt-Salomon, Michael. 2009. Jenseits von Gut und Böse: Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind. 6. Aufl. Pendo.
Schnabel, Ulrich. 2010. Die Vermessung des Glaubens: Forscher ergründen, wie der Glaube entsteht und warum er Berge versetzt. 3. Aufl. Pantheon Verlag.
Wickler, Wolfgang. 2014. Die Biologie der Zehn Gebote und die Natur des Menschen: Wissen und Glauben im Widerstreit. Springer Spektrum.
Wuketits, Franz und Peter Heintel. 2012. Die (Natur-)Geschichte von Gut und Böse: Edition Quer denken 2. Wieser.
Wuketits, Franz M. 2014. Was Atheisten glauben. Gütersloher Verlagshaus.
 
 
 
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