Eine der beliebtesten Argumentationsstrategien von Anhängern des Paranormalen oder der Esoterik sind Anekdoten, die Beweiskraft haben sollen. Gemäss »Bernd Harder  glauben 60-75 Prozent der Menschen weltweit an „paranormale Phänomene“, 30-50 Prozent sind der Überzeugung schon selbst solche Erfahrungen gemacht zu haben. Grund für diesen sehr weit verbreiteten Glauben sind eigene Erlebnisse oder eben Anekdoten, die weitererzählt werden. Die Verwendung von Anekdoten als scheinbare Beweise ist besonders in religiösen, paranormalen und alternativmedizinischen Bereichen beliebt.

So kennt wohl jeder und jede Menschen, denen ein alternativmedizinisches Verfahren (angeblich) geholfen hat, haben die meisten von Wahrsagern gehört, deren Prophezeiungen eingetroffen sind, kennen alle Geschichten von besonders „begabten“ Menschen, welche mit der Wünschelrute Wasseradern muten können oder die über übersinnliche Fähigkeiten verfügen und beispielsweise mit ihren Ahnen reden, sich selbst in eine frühere Inkarnation begeben können oder kurz vor dem Läuten des Telefons wissen, wer anruft. Bei der Einen ist die chronische Krankheit nach dem Besuch bei einem Heiler innert Stunden verschwunden, eine Gelähmte konnte nach einer Wallfahrt nach Lourdes wieder gehen, ein Weiterer hatte sich ein Jahr lang nur von Licht ernährt oder wusste Dinge, die er „ganz bestimmt“ nicht wissen konnte. Der Wirbelsturm „Katrina“ von 2005, der New Orleans zerstört hat, war für viele Amerikaner eine „Strafe Gottes“, wogegen Gebete immer wieder erhört werden und Wunder geschehen.

Besonders beweiskräftig sollen auch komplexere Anekdoten sein. So soll eine Frau von einem Wahrsager informiert worden sein, dass sie bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommen werde, weshalb sie fortan auf das Fliegen verzichtete und nur noch Zug fuhr. Bei einer solchen Zugfahrt stürzte jedoch ein Flugzeug auf den Zug und die Frau verbrannte qualvoll. Auch wenn diese Geschichte frei erfunden ist, zeigt sie die Art und Weise wie Anekdoten funktionieren. Wenn eine solche Geschichte wirklich passiert sein soll, beweist sie doch, dass es Dinge gibt, welche sich nicht „normal“ erklären lassen.

Doch haben solche Anekdoten wirklich Beweiskraft?

Einwände

Keine Beweiskraft

Grundsätzlich muss festgehalten werden, dass Anekdoten als Belege zwar spannend und oftmals einleuchtend sind, dass sie aber keine Beweiskraft haben. Sehr oft dienen einzelne Anekdoten als „Beweise“. So gibt es immer wieder überraschende Heilerfolge in Lourdes, die allergrösste Zahl der Besucher kann aber keine überraschenden Erfolge verspüren. Hat eine Person ein Unglück vorhergesehen, wird sie schnell als „Seherin“ wahrgenommen, wenn auch sämtliche anderen Prognosen sich nicht bewahrheitet haben.

Anekdoten kranken daran, dass sie oftmals verfälscht sind, dass in ihnen übertrieben wird, dass die Macht des Zufalls massiv unterschätzt wird oder auch, dass ihre scheinbare Aussagekraft auf falschen Interpretationen basiert. Darauf wird im Folgenden näher eingegangen.

Urban Legends

Jeder und jede kennt Urban Legends, also Geschichten, welche angeblich stimmen, weil sie ein Freund einer Freundin wirklich und ohne Zweifel erlebt haben will, wo es sich aber eindeutig um erfundene Geschichten handelt. So sollen beispielsweise mit Rattenurin verunreinigte Getränkedosen zu Todesfällen geführt, Menschen sich spontan selbst entzündet haben, sollen ein Krokodil jahrelang im New Yorker Abwassersystem gelebt, geköpfte Hühner kilometerweit geflogen sein. Solche Geschichten können komplett erfunden sein oder einen wahren Kern haben, ähneln aber sehr Anekdoten, welche im Bereich des Paranormalen kolportiert werden. Urban Legends zeichnen sich meist dadurch aus, dass sie wahr sein könnten und dass sie Elemente enthalten, welche aus subjektiver Sicht einleuchten und die man gerne glauben möchte.

Dies gilt natürlich auch für viele Anekdoten, welche in Zusammenhang mit Religion, Esoterik und dem Paranormalen verbreitet werden. Dabei ist die Unterscheidung meist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, wo es sich um wahre Begebenheiten handelt, wo eine Anekdote zumindest einen wahren Kern besitzt und wo Anekdoten bewusst oder durch Verfälschungen während der Verbreitung im Kern schlicht falsch sind. Besonders „überzeugende“ Anekdoten sollten deshalb immer mit grosser Skepsis betrachtet werden, insbesondere wenn sie sich nicht überprüfen lassen. Doch selbst wenn es sich überprüfen lässt ist Vorsicht geboten, da man sich leicht täuschen lässt.

Die Macht der grossen Zahl (Unterschätzen des Zufalls )

So wird beispielsweise ein Alternativmediziner, welcher tausend Patienten mit einer abstrusen Heilmethode behandelt hat automatisch ein paar Erfolge vorzuweisen haben. Diese Erfolge können beispielsweise auf den Placeboeffekt oder auf Spontanheilungen zurückgehen, oftmals bessern sich Symptome auch erst nach einigen Monaten und die Heilung wird dann auf jene Therapie zurückgeführt, die gerade aktuell angewandt wurde. Werden nun die Heilerfolge noch etwas ausgeschmückt, die vielen Misserfolge ausgeblendet („die haben zu wenig daran geglaubt“, „die haben zu früh mit der Therapie aufgehört“ etc. - »Du bist Schuld), hat man schnell ein paar eindrückliche Anekdoten zur Hand, welche – gar nichts beweisen. (»Wie wirkt Alternativmedizin?)

Dasselbe Muster findet sich bei Gebeten. Wohl über eine Milliarde Menschen beten mehr oder weniger regelmässig, weshalb es aus statistischen Gründen notwendig ist, dass manche „Bitten“ auch erhört werden. Auch hier führt eine selektive Wahrnehmung zum Gefühl, beten funktioniere. Ausgeblendet wird dabei meist, dass Millionen Menschen trotz intensiver Gebete verhungern oder an schrecklichen Krankheiten qualvoll sterben. Die religiöse Erklärung dafür ist meist das besonders perfide: „du hast zu wenig geglaubt“.

Unwahrscheinliche Ereignisse werden durch die Macht der grossen Zahl wahrscheinlich. Bewegen sich Millionen Menschen durch eine Grossstadt, wird es immer wieder zu überraschenden Zusammentreffen kommen („wie klein die Welt doch ist“). Anekdoten wie jene, wo ein Mann an Silvester einen Gasballon mit seiner Adresse dran steigen lässt und der Ballon gerade bei seinem ehemaligen Jugendfreund Hunderte Kilometer entfernt landet erscheinen so unwahrscheinlich, dass dies manche als Beleg für eine „höhere Macht“ sehen. Doch wenn Millionen von Menschen Gasballone steigen lassen, wäre es äusserst unwahrscheinlich, wenn nicht ab und zu ein solches Zusammentreffen geschehen würde.

Uri Geller hat dieses Phänomen schon benutzt, um seine angeblichen paranormalen Fähigkeiten zu beweisen. So forderte er Fernsehzuschauer auf, alte Uhren, welche nicht mehr funktionierten hervorzuholen und behauptete, diese allein aufgrund seiner Geisteskraft wieder zum Laufen zu bringen. Um den Effekt zu beweisen, sollten Menschen im Studio anrufen, bei denen die Uhren wieder zu ticken begännen. Bei hunderttausenden von Menschen, welche nun eine oder mehrere Uhren hervorholten, begannen bei einigen sich in der Tat die Uhrzeiger wieder in Bewegung zu setzen, womit auch zu rechnen war. Natürlich riefen vor allem diese Menschen verblüfft an – oder wurden nur solche Telefonate durchgeleitet – was zu ungläubigem Staunen der Fernsehzuschauer führte, wohl auch bei jenen, wo die Uhren „tot“ blieben.

Bekannt ist auch das Geburtstagsparadoxon – befinden sich mehr als 23 Personen in einem Raum, beträgt die Wahrscheinlichkeit über 50 Prozent, dass zwei Personen am gleichen Tag Geburtstag haben.

Zeitliche, aber nicht kausale Übereinstimmung

Auch wenn die Fakten einer Anekdote stimmen, bedeutet das nicht, dass auch ihre Interpretation korrekt ist. In Wolf Haas' Roman „Verteidigung der Missionarsstellung“ verliebt sich die Hauptfigur immer nur dann, wenn gerade eine schlimme Seuche ausbricht – und die Person befindet sich zugleich am Ort des Ausbruchs. Die Hauptfigur ist deshalb der Überzeugung, Ursache der Seuchen (Rinderseuche, Vogelgrippe, Schweinegrippe, Ehec-Seuche) gewesen zu sein. Analog dazu gibt es gerade in der Alternativmedizin oftmals zeitliche Übereinstimmungen, die keinen zwingenden kausalen Zusammenhang implizieren. So ist es aufgrund der Macht der grossen Zahl durchaus zu erwarten, dass es nach dem Besuch eines Geistheilers, eines Wallfahrtsorts oder auch nur nach der Einnahme eines alternativmedizinischen Mittels zu einer spontanen Krebsheilung kommt. Diese zeitliche Übereinstimmung ist aber natürlich kein Beweis dafür, dass der Geistheiler, Gott oder die „Medizin“ für die Heilung kausal verantwortlich sind. Als Anekdoten erhalten sie aber unglaubliche Überzeugungskraft und werden gerne als „Werbemittel“ verwendet. Schmückt man solche zeitlichen Zusammenhänge noch etwas aus, ergeben sich daraus scheinbar unbezweifelbare „Beweise“.

Bibliographie

Harder, Bernd. „Warum die Uhr stehenblieb, als Opa starb“. Knaur 2010. S. 183f.

Haas, Wolf. Verteidigung der Missionarsstellung. Hoffmann und Campe 2012.