„Der Widerspruch ist für Niels Bohr kein ungelöstes Rätsel, er ist ein Teil der Realität. Wir können uns aussuchen, welchen der beiden Aspekte wir beobachten wollen, doch nur wenn wir uns der widersprüchlichen abgewandten Seite bewusst sind, kommen wir der Qualität einer tiefen Wahrheit nahe.“ (Knapp 2011. S. 135)

Die studierte Religionsphilosophin Natalie Knapp, von der diese Worte stammen, gilt nicht als exotische Esoterikerin, sondern ihr Buch „Der Quantensprung des Denkens“ wird meist in der Abteilung Wissenschaftstheorie gelistet. Niels Bohr ist zudem einer der Gründerväter der Quantenmechanik und ihrer »Kopenhagener Deutung, welche zumindest in manchen Versionen die reale Existenz von Widersprüchen behauptet. Über die Kopenhagener Deutung schreibt der Physiknobelpreisträger Robert Betts Laughlin allerdings: "So war die Tatsache, daß die Kopenhagener Deutung überhaupt keinen Sinn ergab, ihre eigentliche Stärke…“ (Gumbrecht 2008, S. 52) Der Physiknobelpreisträger Murray Gell-Mann sagte zudem in einer Rede: "Niels Bohr unterzog eine ganze Generation von Physikern einer Gehirnwäsche, indem er sie glauben machte, das Problem [der Auslegung der Quantenmechanik] sei bereits vor fünfzig Jahren gelöst worden." (Gumbrecht 2008, S. 55)

Es stellt sich also die Frage, ob die „reale Existenz von Widersprüchen“ tatsächlich zu einer tieferen Wahrheit führt - oder schlicht zu Nonsense.

Schrödingers Katze

Erwin Schrödinger hatte 1935 die Absurdität der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik mit seinem bekannten Katzenbeispiel aufgezeigt. Würde die Kopenhagener Deutung stimmen, müsste in einer Analogie eine Katze zugleich tot und nicht tot sein (Schrödingers Katze). Denn gemäss der Kopenhagener Deutung befinden sich Quantenphänomene, solange sie nicht beobachtet werden, in einem Zustand, der widersprüchlich ist. Über etwas Widersprüchliches lässt sich allerdings keine Aussage machen. Die Aussage, dass die Katze zugleich tot und nicht tot sei ist weder wahr noch falsch, sondern sinnlos, respektive gar keine Aussage. Ergibt sich irgendwo in einer Theorie ein Widerspruch, ist dies ein Zeichen dafür, dass die Theorie falsch ist. Erst recht kann die reale Existenz von etwas Widersprüchlichem ausgeschlossen werden. Vielmehr deutet ein Widerspruch darauf hin, dass die Kopenhagener Deutung Fehler enthält. 

Doch Schrödingers Katzenbeispiel führte nicht dazu, dass die Falschheit der Kopenhagener Deutung eingestanden wurde, sondern es wurde flugs eine Umdeutung vollzogen: während in der „klassischen Realität“ keine Widersprüche vorkommen könnten, gelte dies nicht für den Bereich der Quantenphänomene, wo eben ganz andere Gesetze herrschten. Solche "Tricks" ist man sich sonst eher aus dem Bereich der Esoterik gewohnt. StossenEsoteriker irgendwo auf einen Widerspruch, dann ist das für sie oft ein Zeichen dafür, dass es sich um eine "höhere" oder auch "tiefere" Wahrheit handelt. Dass man mit der Aufgabe der Widerspruchsfreiheit aber jegliches Wahrheitskriterium aufgibt, scheint für sie keine Rolle zu spielen. Dass aber Physiker bereitwillig die Existenz von Widersprüchen eingestehen, ist gelinde gesagt erstaunlich. 

von Neumanns Rechenfehler

Es gibt natürlich gute Gründe, warum die Kopenhagener Deutung nicht einfach aufgegeben wurde: zu Beginn der Quantenmechanik existierten keine alternative Deutungen, respektive galt eine alternative Deutung mit verborgenen Variablen als widerlegt. Diese Widerlegung durch den Mathematiker John von Neumann basierte allerdings auf einem simplen Rechenfehler. John Bell, Vater der Bell'schen Ungleichung schrieb dazu: "Von Neumanns Beweis ist nicht bloß falsch, er ist schwachsinnig!" (in Gribbin 1998, S. 222) Obwohl Fehler in seinen Berechnungen schon kurze Zeit später erkannt wurden, dauerte es über dreissig Jahre, bis sich die Erkenntnis durchsetzte, dass sich die Koryphäe von Neumann geirrt hatte. Mittels verborgener Variablen lässt sich allerdings das Rätsel um Schrödingers Katze - auflösen: die Katze ist dann entweder tot oder lebendig. 

Fehlinterpretation der Experimente von Aspect et al.

David Bohm erarbeitete eine Theorie mit verborgenen Variablen, welche im Prinzip gleichwertig ist zur Kopenhagener Deutung. Die Bohmsche Mechanik fristet allerdings bis heute eher ein Schattendasein, nicht zuletzt, da Theorien mit verborgenen Variablen angeblich 1982 durch ein Experiment von Aspect et al. widerlegt wurden, das auf der Bell'schen Ungleichung aufbaute: die verborgenen Variablen müssten selbst "nichtlokal" sein. Allerdings ist auch diese Widerlegung keine Widerlegung im logischen Sinn. Dazu nochmals ein Ausschnitt aus John Gribbins Buch: 

„Augenzwinkernd weist uns Bell darauf hin, daß uns zumindest noch ein Ausweg aus dem Dilemma der Nichtlokalität bleibt, der uns keine Rückkehr zur voreinsteinschen Relativität aufnötigt. Gegenüber Paul Davies äußerte er: „Die Frage kann man auch so wenden, daß man sagt, die Welt sei überdeterminiert.“ Das heißt mit anderen Worten, ausnahmslos alles ist vorherbestimmt, einschließlich der Entscheidung des Versuchsleiters, welche Messungen im Experiment von Aspect vorgenommen werden sollten. Wenn der freie Wille eine Illusion ist, dann können wir dieser Zwickmühle entkommen. Doch wenn wir eine solche Theorie ernst nehmen müßten…“ (Gribbin 1998, S. 251).

Das Problem besteht nun darin, dass längst gezeigt wurde, dass der freie Wille eine Illusion ist (»Existiert Willensfreiheit?). Ein freier, indeterministischer Wille, wie ihn John Bell und das Experiment von Aspect et al. voraussetzen ist logisch nicht widerspruchsfrei denkbar.

Widerspruch - oder Aufgabe von Weltbildern

Geht man also davon aus, dass der Mensch über keinen freien Willen verfügt, dann scheinen sich die Widersprüche der Quantenmechanik plötzlich aufheben zu lassen. Dass viele Menschen dazu nicht bereit sind zeigt auch das Zitat von Anton Zeilinger, einem der renommiertesten aktuellen Quantenphysiker:

„Im Prinzip wäre aber noch eine ganz andere, extreme Position tragbar, oder zumindest denkbar. Dies wäre die Annahme eines totalen Determinismus. In diesem Fall wäre alles vorherbestimmt, einschließlich der Entscheidungen des Beobachters, welche Größe er an einem System misst. Es stellt sich also dann nicht die Frage, welche Eigenschaften die Teilchen hätten, wenn wir etwas anderes an ihnen messen, und der logische Gedankengang der Bell’schen Ungleichung kann gar nicht durchgezogen werden. Dass eine solche Position den Naturwissenschaften vollkommen den Boden unter den Füßen wegziehen würde, ist offenkundig. Welche Bedeutung hätte es, in einem Experiment eine Frage an die Natur zu stellen, wenn die Natur selbst diese Frage determinieren kann?“ (Zeilinger 2007, S.  209).

Zeilingers Zitat ist fast schon absurd. Angeblich mit Ausnahme der Quantenmechanik ist die ganze Naturwissenschaft deterministisch. Warum also im Zweifelsfall eine indeterministische Deutung vorgezogen werden soll, obwohl Naturwissenschaften per se deterministisch sind lässt sich nur mit weltanschaulichen Vorstellungen erklären. Dass diese längst überholt sind, scheint selbst viele Physiker nicht weiter zu kümmern. Es lässt sich nicht genügend betonen, dass ein Indeterminismus weder mit der klassischen Physik noch mit der Quantenphysik vereinbar ist (»Determinismus oder Indeterminismus). Von Bedeutung ist dies vor allem deshalb, da es offensichtlich Wege gibt, um die Widersprüche der Quantenmechanik aufzuheben. Ob die Bohm'sche Mechanik dabei der richtige Weg ist, bleibt dahin gestellt. Womöglich wird es dereinst eine ganz neue Deutung benötigen - die allerdings keine Widersprüche enthalten darf. 

Fazit

Die Quantenmechanik ist nicht deshalb eine "tiefe" Wahrheit, weil sie Widersprüche enthält, sondern viele Deutungen der Quantenmechanik sind falsch, weil sie Widersprüche enthalten, respektive die Existenz von Widersprüchen voraussetzen. Bis heute sind viele Menschen nicht bereit auf überkommene Weltanschauungen zu verzichten und beispielsweise den Glauben an eine indeterminierte Willensfreiheit aufzugeben. Wird den Deutungen der Quantenmechanik aber ein widersprüchliches Fundament zugrunde gelegt, muss man nicht erstaunt sein, wenn die Deutungen Widersprüche enthalten.